„Wie gut kann man mit Jesus am Kreuze sterben, wenn man mit Jesus am Kreuze gelebt hat!“
Predigt von Bischof Dr. Bertram Meier, Augsburg, am 26.07.2024 in Mindelstetten beim Großen Gebetstag zu Ehren der hl. Anna Schäffer
Schriftlesungen vom Gedenktag der hl. Anna Schäffer: Kol 1,24-29; Joh 15,1-8
Eine Video-Aufzeichnung der Predigt können Sie hier auf unserem YouTube-Kanal abrufen.
Liebe Schwestern und Brüder,
vor 25 Jahren wurde Anna Schäffer im März 1999 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, da ich damals Leiter der deutschsprachigen Abteilung im vatikanischen Staatssekretariat war und im Petersdom mitfeierte. Schon zuvor hatte der Regensburger Domvikar Georg Schwager, der sich zu der Zeit ebenfalls in Rom aufhielt, mein Interesse für diese außergewöhnliche Frau geweckt, die so vielen Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenslagen, vom Krankenbett aus, geholfen hatte. Anfangs war sie mir noch etwas fremd, doch heute bin ich ein glühender Verehrer dieser Heiligen, deren Bedeutung weit über die Grenzen des Regensburger Bistums hinausreicht. Darum bin ich gerne der Einladung Ihres Pfarrers Josef Schemmer gefolgt und ein weiteres Mal nach Mindelstetten gekommen, um mit Ihnen den großen Gebetstag zu Ehren der hl. Anna Schäffer zu feiern.
Wir gedenken ihres überaus segensreichen Wirkens und fragen uns, was wir von der „Schreiner-Nandl“ lernen können, die Papst Benedikt XVI. bei der Heiligsprechung 2012 ein „leuchtendes Vorbild“ für alle Gläubigen und einen „Spiegel der Liebe Gottes“1 nannte. Neben der Botschaft der biblischen Lesungen, die wir eben gehört haben, werde ich mich auf ein Zitat der hl. Anna Schäffer stützen, das mich sehr beeindruckt. Ich sehe darin eine Art Zusammenfassung ihrer ganz persönlichen Spiritualität. Sie schrieb in ihren „Gedanken und Erinnerungen“: „Wie gut kann man mit Jesus am Kreuze sterben, wenn man mit Jesus am Kreuze gelebt hat.“²
1. „…wenn man mit Jesus am Kreuze gelebt hat!“
Es ist ein zweifacher Gedanke und ich möchte mit dem zweiten Teil bzw. der Frage beginnen, was es eigentlich heißt, mit Jesus am Kreuz zu leben. Im Falle von Anna Schäffer ist das relativ leicht zu beantworten. Wir alle kennen ihre Geschichte und denken natürlich in erster Linie an ihren schrecklichen Unfall im Jahr 1901, bei dem sie in den Waschtrog mit kochend heißem Wasser fiel, sich schwer verbrühte und ein Leben lang unter den Folgen litt. Ohne Zweifel wurde der jungen Frau an diesem Tag ein schweres Kreuz auferlegt und es ist verständlich, dass viele ihrer Zeitgenossen sie dafür zunächst bedauerten. Was dann allerdings mit ihr geschah, ist für mich ein untrügliches Zeichen, dass die schlimmsten Leiden unseres Lebens Zeilen sein können, auf denen Gott Heilsgeschichte schreiben kann.
Erinnern wir uns daran, dass Anna Schäffer in jungen Jahren aus tiefstem Herzen Missionsschwester werden wollte, um den Menschen das Evangelium Jesu Christi zu verkünden. Rückblickend hat Gott aus der Sicht des Glaubens die Gebete seiner Tochter Anna erhört, allerdings auf eine ganz andere Weise, als sie es sich vermutlich ausgemalt hatte. Hier wird deutlich, was Jesus mit seiner Ankündigung meinte, dass einer sein Kreuz auf sich nehmen müsse, wenn er ihm wirklich nachfolgen will (vgl. Mt 16,24). Im Falle von Anna Schäffer hieß das, ganzjährig ans Bett gefesselt zu sein, mit großen Schmerzen. Man kann verstehen, wenn es Menschen angesichts solchen Leids schwerfällt, an einen liebenden Gott zu glauben. An der Stelle lohnt ein Blick auf die heutige Lesung. Denn auch der Apostel Paulus musste für seinen Glauben einiges erdulden; im Brief an die Kolosser erzählt er von seiner Zeit als Häftling im Gefängnis. Zu diesem Zeitpunkt hat er aber bereits verstanden, dass wahre Christusnachfolge bedeutet, in einem oft skeptisch bis feindlich gesinnten Umfeld die Botschaft Jesu zu verkünden, und dabei auch Verfolgung und Leid anzunehmen – im festen Vertrauen darauf, dass der Herr einem gerade in diesen Situationen ganz nahe ist. So lesen wir an einer Stelle sogar die Worte: „Ich freue mich in den Leiden“ (Kol 1,24).
Es ist die Paradoxie unseres Glaubens, die besonders in unserer Zeit kaum noch verstanden wird. Wie kann ein Paulus sich seiner Leiden erfreuen und Gott noch dafür danken? Wie kann Anna Schäffer davon sprechen, dass ihre Schmerzen für sie eine „Himmelsleiter“³ sind? Die Antwort, die Paulus uns gibt, ist so einfach wie herausfordernd: Es ist jenes „Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war – jetzt aber seinen Heiligen offenbart wurde“ (Kol 1,26). Wir können alles ertragen in dieser Welt, Krankheit, Not, Trauer etc., und sogar eine innere Freude empfinden, wenn wir aus der Hoffnung auf Jesus Christus leben (vgl. Kol 1,27) und unsere ganze Existenz in seine Hände legen. Das heutige Tagesevangelium bietet uns dafür das schöne Bild von den Reben, die am Weinstock hängen und von ihm ihre Kraft bekommen. Unser Heil und unser Friede sind also nur dann gefährdet, wenn wir meinen, alles alleine schaffen zu müssen, oder, noch schlimmer, zu können. Wir bleiben als Geschöpfe ganz auf unseren Schöpfer verwiesen und können das Leben als eine Zeit der Reifung betrachten, in der wir unsere Beziehung zu Jesus Christus vertiefen und immer mehr mit ihm zusammenwachsen sollen. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5)
Auch die heilige Anna musste erst lernen, diese Realität anzuerkennen, doch wurde ihr die Gnade zuteil, im Laufe der Zeit immer mehr loszulassen und sich ganz der Liebe Gottes zu übergeben. Ihr Lebensbeispiel zeigt, was für Wunder geschehen können, wenn Menschen das tun. So wurde sie für viele Gläubige nicht nur eine tröstende und hilfreiche Ratgeberin, sondern zeigt auch uns heute, welche Kraft im Gebet und in der Gottverbundenheit liegt. Erinnern Sie sich daran, sollten Sie selbst einmal in eine schwere Lebenskrise geraten! Dass dies sogar über den Tod hinaus noch gilt, zeigen die unzähligen Gebetserhörungen, die für die heilige Anna Schäffer dokumentiert sind.
Dies führt mich zu meinem zweiten Gedanken, der sich auf das eingangs zitierte Wort der hl. Anna bezieht, dieses Mal jedoch auf den ersten Teil, wo es heißt: „Wie gut kann man mit Jesus am Kreuze sterben…“
2. „Wie gut kann man mit Jesus am Kreuze sterben…“
Aus aktuellem Anlass möchte ich hierzu auf die Erklärung Dignitas infinita des Dikasteriums für die Glaubenslehre hinweisen, die erst kürzlich am 2. April 2024 erschienen ist. Solche „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“ gehen in der öffentlichen Wahrnehmung ja gerne mal unter. Anlass für dieses Schreiben war eine besondere Bitte von Papst Franziskus, der im Anschluss an seine Enzyklika Fratelli tutti ausdrücklich forderte, ein stärkeres Augenmerk auf die schweren Verletzungen der Menschenwürde zu richten.⁴ So bekräftigt die Katholische Kirche in dem Dokument mit Nachdruck, dass die Würde des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod geschützt werden muss. Konkret wird das, wenn es z. B. um Abtreibung oder assistierten Suizid geht – Themen, die momentan auch auf politischer Ebene in Deutschland heiß diskutiert werden. Als deutsche Bischöfe nehmen wir mit großer Sorge wahr, welche Ideen und Empfehlungen dabei seitens der von der Regierung eingesetzten Kommission vorgebracht werden. Es widerspricht fundamental den christlichen Grundsätzen, wenn hier gesagt wird, dass das ungeborene Kind überhaupt kein Träger von Menschenwürde sei und ihm lediglich ein abgestufter Lebensschutz zukomme.⁵ Im klaren Gegensatz dazu handelt es sich nach christlicher Auffassung auch beim vorgeburtlichen Leben von Anfang an um individuelles Leben mit eigener Würde, das Anspruch hat auf Schutz.
Ebenso kritisch müssen wir es bewerten, wenn Gesetzesvorlagen, welche die Möglichkeit der Sterbehilfe anerkennen, als „Gesetze zum würdevollen Sterben“⁶ bezeichnet werden. Lehrt uns nicht das Beispiel der hl. Anna Schäffer, welchen Wert das menschliche Leben selbst in schmerzhaften Zuständen hat? Sie, die sich an manchen Tagen kaum noch regen konnte, wünschte sich gemäß ihren Aufzeichnungen zwar auch manchmal Erlösung durch den Tod. Gleichzeitig erkannte sie aber tief in ihrem Inneren, welch überaus reiche Gnade Gott ihr speziell in dieser Lebensphase gewährte, indem er sie Dinge sehen ließ, Visionen, Begegnungen mit Heiligen, und sie fand ihre Berufung darin, anderen von der alles übersteigenden Liebe Christi zu erzählen, aus der heraus sie tagtäglich lebte, und die sie besonders beim Kommunionempfang spüren konnte.
Nun werden solche Gnadenerweise natürlich nicht jedem Menschen in diesem Maße zuteil. Dennoch sind wir alle zur Heiligkeit berufen und dürfen als Christinnen und Christen niemals den Fehler machen, angesichts von Schmerz und Leid den Sinn des Lebens in Frage zu stellen, und in der Folge Selbstmord als denkbare Option anzuerkennen. Das Leben, mit all seinen schönen und herausfordernden Seiten, bleibt ein unverfügbares Geschenk Gottes.
Stattdessen müssen wir alles tun, um den Kranken und Leidenden die nötige medizinische, ggf. auch palliative Begleitung zukommen zu lassen, und ihnen zugleich mit Liebe und Mitgefühl zu begegnen. Hüten wir uns jedoch davor zu meinen, dass diese Menschen nur passiv Empfangende sind. Anna Schäffer lag unbeweglich im Bett, und doch kamen die Menschen in Scharen zu ihr, weil sie spürten, dass von dieser Frau etwas ausging, eine besondere Kraft und Weisheit. Oft sind es also gerade jene Personen, die uns schwach und benachteiligt vorkommen, durch welche Gott zu uns spricht.
Liebe Schwestern und Brüder,
„wie gut kann man mit Jesus am Kreuze sterben, wenn man mit Jesus am Kreuze gelebt hat!“ Lernen wir von der hl. Anna Schäffer den Wert des Lebens neu schätzen. Erheben wir als Kirche und Gesellschaft unsere Stimme, wo die Würde des Menschen gefährdet ist, und seien wir Anwältinnen und Anwälte für das Leben. Schließlich: Rechnen wir damit, dass uns in diesem Leben Dinge passieren, die wir nicht verstehen und unter denen wir leiden. Christsein, das lehrt uns die hl. Anna Schäffer, heißt, auch diese Dinge anzunehmen und Mut zu fassen im Glauben an die Zusage, die Paulus uns in der heutigen Lesung freudig zuruft: „Christus ist unter euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit.“ (Kol 1,27)
Fußnoten:
1 https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/homilies/2012/documents/hf_ben-xvi_hom_20121021_canonizzazioni.html (24.07.2024).
2 Anna Schäffer: Gedanken und Erinnerungen meines Krankenlebens und meine Sehnsucht nach der ewigen Heimat, Tübingen 2012, 38.
3 Anna Schäffer: Gedanken und Erinnerungen meines Krankenlebens und meine Sehnsucht nach der ewigen Heimat, Tübingen 2012, 38.
4 Dikasterium für die Glaubenslehre: Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 240), 6.
5 Vgl. https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/bischofskonferenz-nimmt-bericht-zur-reproduktiven-selbstbestimmung-mit-sorge-wahr (25.06.2024).
6 Dikasterium für die Glaubenslehre: Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 240), 53.