Für wen gehst Du?
Predigt von Bischof Dr. Bertram Meier
bei der Weihe von drei Ständigen Diakonen
am Samstag, den 12. Oktober 2024, im Hohen Dom zu Augsburg
Liebe Weihekandidaten,
liebe Frauen Appelt, Köhler und Lohner mit Familien,
liebe Schwestern und Brüder!
Einen Schatz von Weisheiten erschließen uns die Erzählungen der Chassidim, die uns Martin Buber überliefert hat. Eine dieser Geschichten lautet so:
In der Stadt Ropschitz pflegten die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende des Ortes lagen, Leute anzustellen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten. Als Rabbi Naftali eines Abends spät am Rande des Stadtwaldes spazieren ging, begegnete er solch einem Wächter. „Für wen gehst Du?“, fragte er ihn. Der Wächter gab ihm die entsprechende Auskunft, fügte jedoch sofort die Gegenfrage hinzu: „Und für wen geht Ihr, Rabbi?“ Diese Frage traf den Rabbi wie ein Pfeil. „Noch gehe ich für niemand“, brachte er mühsam hervor. Dann ging er lange und schweigend neben dem Wächter her. Schließlich fragte er ihn: „Willst Du mein Diener werden?“ – „Das will ich gern“, antwortete jener, „aber was habe ich zu tun?“ – „Mich zu erinnern“, sagte Rabbi Naftali.
Mitten ins Herz traf den Rabbi diese Frage: Für wen gehst Du? Es ist die Frage nach seinem Lebenssinn, nach einer Aufgabe, die ausfüllt und glücklich macht. Aber der Rabbi hat darauf noch keine richtige Antwort. Das ist verwunderlich. Ist er doch Rabbi, d. h. Glaubenslehrer mit Vorbildfunktion, einer, der schon jahrelang mit dem Wort Gottes umgeht, der die vorgeschriebenen Gebete treu verrichtet und das Gesetz des Herrn in- und auswendig kennt. Und doch sagt er: „Noch gehe ich für niemand.“
Lieber Herr Appelt, lieber Herr Köhler, lieber Herr Lohner,
nach einer langen und anspruchsvollen Vorbereitung sind Sie heute gebeten, vor uns allen Ihre persönliche Antwort auf die gleiche Frage zu geben, die dem Rabbi in der Erzählung gestellt wurde. „Für wen gehst Du?“ Es ist für Sie, liebe Weihekandidaten, die Vertiefung Ihrer Taufberufung, die Frage nach einer Haltung, nach einer endgültigen Entscheidung, die Ihr Leben wesentlich prägen soll. Diese Entscheidung feiern wir heute. Wir stehen vor der Frage: Für wen gehe ich?
Ich will Ihnen heute zur Diakonenweihe drei Antworten an die Hand geben als Angebot, darüber weiter nachzudenken.
„Ich gehe für Christus.“ Jesus Christus ist der erste Diakon, denn er ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (vgl. Mk 10,45). Der Evangelist Lukas im Abendmahlssaal drückt es so aus: Jesus ist „unter euch wie einer, der bedient“ (vgl. Lk 22,27). Und Johannes macht ernst mit dem Dienen, indem er Jesus beschreibt, der sich eine Schürze umbinden lässt, um den Aposteln die Füße zu waschen. Im Abendmahlssaal wird die Kirche der Schürze geboren.
Mit der Weihe erhalten unsere Kandidaten den Auftrag, diesen ersten Diakon inmitten des Volkes Gottes zu repräsentieren. Damit sollen die neuen Diakone Jesu Grundeinstellung, seinen Lebensstil wachhalten. Bei allen äußeren Aktivitäten und Handlungen, die dem Diakon zukommen, soll dies die Innenseite des Diakonats sein. „Ich gehe für Christus.“ Das ist nicht immer angenehm, auch nicht vergnügungssteuerpflichtig, wenn sich der Alltag einstellt und Sie sich mit Unverständnis und Widerspruch auseinandersetzen müssen. Dann kann es sein, an Jesu Kreuz Anteil zu bekommen, es kann bedeuten, abgelehnt oder verlacht zu werden. Aber genau solche Momente können, liebe Weihekandidaten, Ihre Berufung noch vertiefen. Erfahrungen des Kreuzes können Sie und ihre Familie in eine Freundschaft mit Jesus führen, die tiefe Wurzeln hat und ein Leben lang trägt.
„Ich gehe für die Kirche.“ Auch das ist eine mögliche Antwort. Sie haben es schon in der Vorbereitungszeit ansatzweise erfahren, und mit der Weihe wird es zum Ernstfall: Sie werden als Diakone noch stärker mit der Kirche identifiziert als früher. Sie werden leichter angesprochen, gefragt, vielleicht auch provoziert. Sie stehen für die Kirche ein, manchmal auch für Ihre Fehler und Schwächen. Von heute an sind Sie offiziell ein Mann der Kirche. Dafür werden Sie nicht nur Lobeshymnen ernten, sondern auch auf Kritik stoßen, bei einigen werden Sie Kopfschütteln auslösen. An den Vertretern der Kirche arbeiten sich heute viele ab. Sie werden Ihren Kopf hinhalten müssen für Dinge, an denen Sie persönlich nicht schuld sind. Auch das gehört – ehrlich gesagt – in die Existenz eines Diakons hinein. Ich wünsche Ihnen Kraft und Mut, Stellung zu beziehen und zu zeigen, wo Sie stehen: bei Jesus, der die Kirche gegründet hat. Lassen Sie sich nicht entmutigen! Der Herr steht zu Ihnen. Er lässt Sie nicht fallen.
Noch eine dritte Antwort gibt es auf die Frage: Für wen gehst Du? Die Antwort eines Diakons könnte auch lauten: „Ich gehe für die Menschen.“ Wenn Menschen in der Kirche geweiht werden, dann ist das nie ein Geschenk zur persönlichen Selbstdarstellung; Weihe ist immer „ministerium“, Dienst am Menschen. Ministerium: das lateinische Wort leitet sich ab von „ministrare“, dienen. Wenn Sie so wollen, dann werden Sie, liebe Weihekandidaten, heute eine Art Oberministranten. Das ist nicht despektierlich gemeint. Damit möchte ich Ihren Dienst nicht kleinreden, sondern daran erinnern, dass Ihr Mitwirken etwa bei der hl. Messe, auch die Spendung der Taufe oder die Beerdigung Assistenz ist, dass Ihre Verkündigung Dienst am Wort sein soll und dass alles liturgische Tun sich zeigt und ausweitet in der Seelsorge und im caritativen-diakonischen Handeln. Ich wünsche mir als Ihr Bischof, dass Sie sich gerade um die Menschen am Rande kümmern und nach Wegen suchen, um gerade Ihnen das Evangelium anzubieten. Bewahren Sie sich den Blick und das Herz, die Empathie für die Schwachen und Kleinen!
Nach einer alten syrischen Gemeindeordnung, die wahrscheinlich aus dem 5. Jahrhundert stammt, sind die Diakone „in allem wie das Auge der Kirche“. Dieser Text beschreibt das Gemeinte sehr konkret: Aufgabe des Diakons war es zum Beispiel, die Kranken im Dorf aufzuspüren oder am Morgen den Strand nach Toten abzusuchen. Der Diakon weitet den Horizont der Kirche. Der Diakon bleibt nicht beim „inner circle“ der Gemeinde stehen, sondern sucht die Not der Menschen an der sozialen, psychischen und spirituellen Peripherie. Er entdeckt die Zerbrechlichkeit des Lebens – gerade dort, wo sie versteckt und überdeckt ist. Der Diakon will die Menschen mit ihren tiefen Abgründen verstehen und anschauen – keineswegs mit einem strafenden Blick, sondern mit Achtung und Wohlwollen. So steht er für eine wichtige Grundhaltung: Wir schauen nicht weg. Die Kirche schaut hin. Die Kirche ist für die Menschen da. In Anlehnung an den Theologen Johann Baptist Metz können wir sagen: Der Diakon lebt eine „Mystik der offenen Augen“.
Liebe Weihekandidaten,
ich gehe für Christus, ich gehe für die Kirche, ich gehe für die Menschen.
Diese Antworten kann man nicht einfach wie eine auswendig gelernte Formel dahinsagen und abhaken. Sie sind mit Ihrer Antwort auch nicht allein. Ihre Ehefrauen haben sich bereit erklärt, Ihre neue Aufgabe als Diakone mitzutragen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen, liebe Frau Appelt, liebe Frau Köhler und liebe Frau Lohner von Herzen bedanken. Sie schaffen das Hinterland, damit Ihre Ehemänner als Diakone glaubwürdig wirken können. Und umgekehrt soll auch der Diakonat Ihr Ehe- und Familienleben nachhaltig prägen. Möge Ihr Haus, Ihre Wohnung, Ihre Familie ein Ort sein, wo das gegenseitige Dienen großgeschrieben wird. Der erste Trainingsplatz für unsere neuen Diakone ist das eigene persönliche Leben daheim. Dort soll sich die Bereitschaft zum Dienst bewähren.
Liebe Schwestern und Brüder, als Bischof freue ich mich, heute drei neue Helfer als Diakone weihen zu dürfen. Das ist ein großer Tag für unser Bistum. Uns allen gilt die Frage: Für wen gehst Du? Bleiben wir dem Herrn die Antwort nicht schuldig.