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Lektüre zwischen den Jahren

Predigt Heiligabend 2022 – Weihnachten ist das Fest der Offenbarung Gottes in der Geschichte


Liebe Brüder und Schwestern,

Sehr geehrter Herr Präsident Mahmoud Abbas und Vertreter des Staates Palästina,

Sehr geehrter Vertreter Seiner Majestät, König Abdallah I. von Jordanien,

Eure Exzellenzen, Generalkonsuln und Mitglieder des diplomatischen Korps,

Möge der Herr Ihnen Frieden schenken!

„Das Volk, das in der Finsternis ging, / sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, / strahlte ein Licht auf. 2 Du mehrtest die Nation, / schenktest ihr große Freude. (Jes. 9,2-3 Einheitsübersetzung).

Einmal mehr treffen wir uns hier in Bethlehem, an diesem heiligen Ort, um zu danken, zu loben und das wunderbare Ereignis der Geburt des Erlösers zu feiern. Erneut verkünden wir mit dem Propheten Jesaja der ganzen Welt, dass ein großes Licht vor unseren Augen erschienen ist und dass eine große Freude unsere Herzen erfüllt hat, „denn die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten.“ (Titus 2,11): Jesus Christus, der Erlöser.

Heute sind wir wie jedes Jahr eingeladen, uns vor diesem großen Geheimnis zu verneigen, das auch eine Verkündigung des Heils und der Barmherzigkeit ist. Weihnachten ist in der Tat (vielleicht ein bisschen kindisch) nicht nur eine Zeit der Freude, des Feierns und der Lichter, oder der glücklichen Kinder und der Geschenke für Bedürftige. Es ist vor allem das Fest der Offenbarung Gottes in der Geschichte.

Es ist die Offenbarung des göttlichen Willens für die Menschheit, die in der Weihnachtszeit ihren Höhepunkt erreicht. Weihnachten ist der Blick Gottes auf die Welt und sein Urteil über sie. Und es ist ein Urteil des Heils und der Barmherzigkeit, des Mitleids und nicht der Verdammung.

„Das Volk, das in der Finsternis ging, (Jes 9,1). Das Leben der Welt war von Sünde geprägt. Damals war die Welt zerrissen, gespalten und voller Gewalt – nicht weniger als heute, wie wir wissen. Und doch, mit Weihnachten begann sich etwas zu ändern. Die Geburt des Kindes von Bethlehem ist in der Tat auch die Geburt einer neuen Chance für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Gewiss, es gab keine plötzlichen Veränderungen im Leben dieser von Gewalt geprägten Welt. Aber diese göttliche Absicht, dieser von Barmherzigkeit erfüllte Wunsch Gottes, der zu Weihnachten Fleisch geworden ist und in einem Kind sichtbar wurde, begann sich nach und nach von diesem Ort aus auf die ganze Welt auszudehnen.

Sie brachte eine neue Lebenseinstellung, die auf der Würde jedes Mannes und jeder Frau beruht, auf einer Gerechtigkeit, die niemals von der Barmherzigkeit getrennt ist, auf dem Wunsch, dass alle gerettet werden. Seitdem strahlt diese göttliche Absicht weiter aus und bringt ihr Licht zu denen, die in Finsternis leben.

Doch dieses Urteil und dieser Blick der Barmherzigkeit und des Heils erwarten auch eine Antwort: Sie sind eine Einladung an jeden Menschen, sich auf diese neue Lebensweise einzulassen, die auf demselben Wunsch Gottes beruht. Es ist ein kraftvoller und feierlicher Aufruf, in diesem neuen Licht zu leben. „In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen.“ (Joh 1,4-5).

Weihnachten zu feiern, bedeutet also auch eine Entscheidung. Man kann sich nämlich dafür entscheiden, dieser Einladung nicht zu folgen „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,11).

Von damals bis heute sind dieser Blick und diese Beurteilung Gottes in der Welt gegenwärtig durch die Kirche. Denn das Christentum ist in erster Linie die Lebensform derjenigen, die sich entschieden haben, die Einladung anzunehmen, glaubwürdige Zeugen des Heilsplans Gottes für alle zu sein. Kirche zu sein bedeutet, diesen göttlichen Wunsch nach Barmherzigkeit zu konkretisieren, einen Wunsch, der durch die Geburt Christi möglich und greifbar wurde. Die christliche Gemeinschaft ist berufen, das barmherzige Herz Gottes in dieser unserer Welt lebendig und gegenwärtig zu machen und die Menschheit mit Augen zu betrachten, die von Seinem strahlenden Licht erleuchtet sind. Man gewinnt einen wahreren Blick auf das Weltgeschehen, wenn man auch mit dem Herzen sieht und nicht nur mit den Augen.

Und was sehen wir heute, hier in dieser unserer Welt? Worüber denkt unsere Jerusalemer Kirche nach? Was bringt Gottes Licht in die Augen unseres Verstandes und unseres Herzens, hier in diesem Heiligen Land?

Mit unseren Augen sehen wir, dass Gewalt zu unserer Hauptsprache geworden zu sein scheint, zu unserer wichtigsten Art der Kommunikation. Die Gewalt nimmt zu, vor allem in der Sprache der Politik. Wir haben bereits unsere Besorgnis über die Richtung zum Ausdruck gebracht, welche die Politik in Israel einschlägt, wo die Gefahr besteht, dass das ohnehin schon zerbrechliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen religiösen und ethnischen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft ausmachen, zerstört wird. Die Politik hat die Aufgabe, dem Land und seinen Bewohnern zu dienen, sich für Harmonie zwischen den verschiedenen sozialen und religiösen Gemeinschaften des Landes einzusetzen, diese Arbeit in konkrete und positive Maßnahmen umzusetzen und nicht stattdessen Spaltungen oder, schlimmer noch, Hass und Diskriminierung zu schüren.

In diesem Jahr hat die Gewalt auf den palästinensischen Straßen auf schreckliche Weise zugenommen, und die Zahl der Todesopfer wirft uns um Jahrzehnte zurück. Dies ist ein Zeichen für die besorgniserregende Zunahme der politischen Spannungen und das wachsende Unbehagen, insbesondere unter unserer Jugend, hinsichtlich der immer weiter entfernten Lösung des andauernden Konflikts. Die palästinensische Frage scheint leider nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Welt zu stehen. Auch dies ist eine Form der Gewalt, welche die Gefühle von Millionen Palästinensern verletzt, die zunehmend allein gelassen werden und die seit zu vielen Generationen auf eine Antwort auf ihren legitimen Wunsch nach Würde und Freiheit warten.

Leider gibt es Gewalt nicht nur in der Politik. Wir sehen sie in sozialen Beziehungen, in den Medien, in Spielen, in Schulen, in Familien und manchmal sogar in unserer eigenen Gemeinschaft. All dies ist auf den zunehmenden Mangel an Vertrauen zurückzuführen, der unsere Zeit kennzeichnet. Wir vertrauen nicht darauf, dass eine Veränderung möglich ist; wir vertrauen einander nicht mehr.

Und so wird Gewalt zur einzigen Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren. Der Mangel an Vertrauen ist die Wurzel jedes Konflikts hier im Heiligen Land, in der Ukraine und in so vielen anderen Teilen der Welt.

In einem solchen zerrissenen und verwundeten Umfeld ist es daher die erste und wichtigste Berufung unserer Kirche, den Menschen zu helfen, die Welt auch mit dem Herzen zu sehen und sich daran zu erinnern, dass das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn es für die Liebe offen ist. Weihnachten zu feiern bedeutet für uns, die wir eine Gemeinschaft der an Christus Glaubenden sind, eine Quelle der Barmherzigkeit, des Mitgefühls und der Vergebung zu schaffen, zu fördern und zu sein. Es bedeutet, den Wunsch nach Barmherzigkeit, den Gott uns mit der Geburt Jesu offenbart hat, in das Leben unserer zutiefst verwundeten Wirklichkeit zu bringen. Es bedeutet, den Mut zu Gesten zu haben, die Vertrauen schaffen. In der Tat muss der Glaube an Gott unser Vertrauen in die Menschheit stützen, unserer Hoffnung ein Fundament geben und sich in Gesten der freien und aufrichtigen Liebe zeigen.

Der Frieden, den wir uns alle wünschen, kommt nicht von selbst. Dafür sind Männer und Frauen notwendig, die es verstehen, den Weg Gottes in konkrete und greifbare Handlungen umzusetzen, in den kleinen und großen alltäglichen Dingen. Menschen also, die sich nicht scheuen, sich in das Leben der Welt einzubringen, und die es verstehen, mit Gesten der unentgeltlichen Liebe den Wunsch nach dem Guten zu wecken, der im Herzen eines jeden Menschen wohnt und nur darauf wartet, von den Fesseln des Egoismus befreit zu werden. Jesus, der Erlöser, der hier in Bethlehem geboren wurde, sagte: „Selig, die Frieden stiften“; er selbst hat sein Leben am Kreuz hingegeben und mit seiner Liebe den Tod besiegt und uns gelehrt, dass die Liebe stärker ist als der Tod.

Es ist nicht unmöglich. Das Zeugnis so vieler Männer und Frauen hier, in unserem Heiligen Land und in so vielen anderen Teilen der Welt, zeigt uns, dass diese Art zu leben, diese Art, Weihnachten zu feiern, auch heute noch möglich ist, trotz allem.

So wünsche ich mir, dass das Jesuskind auch in uns wieder den Wunsch nach dem Wohl eines jeden Menschen weckt, unser Vertrauen in alle stärkt und unser Engagement für Frieden, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Heiligen Land und in der Welt trägt.

Frohe Weihnachten!

Bethlehem, 24. Dezember 2022

Pierbattista Pizzaballa

Lateinischer Patriarch von Jerusalem

Arbeitsübersetzung aus dem Italienischen – Dr. Claudia Kaminski