Kaplan Leo Skorcyzk, Regensburg
Mk 12, 28b–34
Weil ich in meiner neuen Kaplans-Wohnung einen eigenen Haushalt habe, muss ich jetzt für jedes Spülmittel oder jede Banane selbst einkaufen gehen. Kennen Sie es, dass wir uns beim Einkaufen nur ein paar Sachen merken wollen, aber im Endeffekt doch einige schnell wieder vergessen. Wir fragen uns dann: wieso können wir uns nicht einmal ein paar einfache Sachen merken?
Die Tora: 613 Gesetze
So ging es eventuell auch dem Schriftgelehrten, welchem wir heute in unserem Evangelium begegnen. Er kam aus einer Kultur der Toraschulen, in denen die jungen Männer viele Stunden dem Studium der Tora widmen mussten, also den fünf Büchern des Mose. Diese ersten Bücher auch unserer Bibel enthalten nach traditioneller jüdischer Zählung 613 Gesetze. Dies ist auch für einen motivierten Gelehrten viel und für uns Christen wird es nicht einfacher! Wenn wir uns bemühen wollten, einfach alles auswendig zu lernen, müssten wir auch alle 1752 Gesetze des CICs auswendig lernen, also der Sammlung unseres Kirchenrechts.
Der Glaube in kompakten Formeln?
Außerdem kommt noch die Sammlung der wichtigsten Glaubenswahrheiten hinzu, der Katechismus und seine 2865 Absätze. Es wäre interessant das zu schaffen, aber ich denke es war schon damals von größerer Bedeutung, den Glauben kompakt in kurzen Formeln zusammenfassen zu können. In der Sprache von heute könnten wir auch sagen, dass der Schriftgelehrte aus unserem Evangelium Jesus nach seinem ‚Elevator Pitch‘ fragt: Die Zusammenfassung seiner Botschaft in der Zeitspanne, die ungefähr so lang ist, wie eine Liftfahrt mit einer anderen Person.
Geliebte Brüder und Schwestern, wir wollen uns heute den sogenannten ‚Elevator Pitch‘ Jesu anschauen, die Antwort auf die wichtige Frage, was die Essenz unseres Glaubens ist. Unser Herr Jesus Christus wird dabei gefragt: Welches Gebot ist das erste von allen? Der Schriftgelehrte kommt bei dieser Frage auf Jesus sehr wohlwollend zu und es wirkt wie als wäre ein tieferes Verständnis der Schrift seine Absicht. Was antwortet Jesus ihm auf diese Frage?
Er hätte einfach mit dem ersten Gebot der Zehn Gebote antworten und so wortwörtlich das erste Gebot zitieren können. Er hätte dann mit Exodus 20,2-3 geantwortet: Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
Jesus wählt eine einfache Aussage
Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. So antwortete er aber nicht und nannte dem Schriftgelehrten auch nicht die Gesamtheit der Zehn Gebote. Obwohl die Zehn Gebote ja schon die Zusammenfassung des Gesetzes sind, wählt er eine noch einfachere Aussage und es wird teilweise davon ausgegangen, dass Jesus dabei eine schon damals verbreitete Formulierung aufgreift. Es handelt sich um die Kombination aus zwei Bibelzitaten. Der erste Teil ist dabei das sogenannte Schma Jisrael (Höre, Israel) aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,4–9): Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Dabei zitiert Jesus einen für die beiden sehr bekannten Text.
Denn dieses Gebet ist für die Juden bis heute das üblichste Gebet, welches sie dreimal am Tag wiederholen. Man kann es vielleicht mit dem ‚Vater Unser‘ der Christen vergleichen als das bekannteste und kurze Gebet einer Religion. Ich hoffe zumindest, dass das ‚Vater Unser‘ für uns Christen genau wie das Schma Jisrael ein Text ist, der uns verbindet und den wir auswendig können; das wir mehrfach am Tag wiederholen können, den wir als bekanntes und sicheres Gebet und als Ruhemoment in unserem Alltag beten können. Hoffentlich ist es so auch ein Gebet, das wir sowohl in schweren wie auch schönen Situationen unseres Lebens sprechen können und uns daran erinnert, was unsere Identität und Lebensgrundlage als Christen ist.
Gebet: Erinnerung an Gottes Gegenwart
Einen Gebetstext regelmäßig als positive Angewohnheit zu rezitieren kann auch den Alltag prägen, da es uns dadurch schwerer fällt, direkt vor oder nach dem Gebet in unchristliches Verhalten zu rutschten. Es kann uns die Erinnerung an Gottes Präsenz erleichtern. Diese Antwort Christi ist jedoch als Doppelgebot bekannt, da Jesus nicht bei dem Ersten stehenbleibt, sondern etwas weiteres hinzufügt. Er sagt: Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (MK 12,31) Dabei zitiert er Levitikus 19,18b und wir kommen hier zu dem Punkt, warum vielleicht auch von einem Tripelgebot der Liebe die Rede sein kann!
Das perfekte Subjekt unserer Liebe
Wir beginnen bei der Liebe und damit bei Gott selbst. Wir lesen in der Bibel an anderer Stelle: Gott ist selbst die Liebe (vgl. 1. Joh 4,16) Sie fängt also bei ihm an und er schuf uns aus Liebe, da er uns nicht brauchte, sondern unsere Schöpfung wollte. Denn er wollte mit uns eine Beziehung und will für uns ausschließlich das Gute – dies sind einige einfache Erkennungsmerkmale der Liebe. Wenn wir unsere Liebe Gott gegenüber als eine Antwort auf diese Liebe sehen, dann ist es auch eindeutig, warum wir uns hier nicht zurückhalten sollen. Wir können uns bei Gott uneingeschränkt und vollkommen in dieser Liebe hingeben, denn so wie er der Ursprung der Liebe uns gegenüber ist, so ist er auch das perfekte Subjekt unserer Liebe. Bei ihm müssen wir nie aufpassen, ob es ungleichmäßig oder einsteigt wird oder in eine falsche Richtung abdriftet.
…mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele
Er schuf uns aus Liebe dafür, ihn zu lieben. Und deswegen hören wir weiter im Schma Jisrael: Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Um diese Worte in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu erfassen, sollten wir heute wahrscheinlich sagen: du sollst den Herrn deinen Gott lieben, mit deinem ganzen Willen, mit deinem ganzen physischen und psychischen Leben und mit deinem ganzen Intellekt, deinem ganzen Geist. Damit hat der Verfasser damals den ganzen Menschen beschrieben. Es bedeutet also, dass wir uns bei der Liebe Gott gegenüber nicht zurückhalten müssen.
Den Nächsten lieben wie sich selbst
Weiterführend ist es auch im Doppelgebot der Liebe enthalten, dass ich die beiden Teile dieses Gebots nicht widersprechen. Die Logik der Liebe sieht beide Teile nämlich als ein Ganzes. Wenn wir Gott mit ganzer Hingabe lieben, dann werden wir auch die lieben, die Gott liebt. Wir werden also die Nächsten so lieben wollen, wie uns selbst, weil Gott ihn ja genau so liebt. Hier jedoch kommt meine kleine Abwandlung ins Spiel! Ich bin nämlich davon überzeugt, dass wir uns auch auf die letzten Worte dieses letzten Teils des Doppelgebots der Liebe konzentrieren müssen: wie dich selbst. Ich denke, dass dieser Abschnitt vor allem in letzter Zeit immer wieder von großer Bedeutung war. Wir lesen an anderer Stelle, dass es eigentlich vorausgesetzt und nicht der Rede wert ist, dass wir uns und unseren eigenen Körper lieben und ihm so nie etwas Schlechtes zufügen würden: Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. (Eph 5,29)
Die Formulierung Jesu ist aber nicht zufällig so gewählt und verdient eine genaue und vollständige Betrachtung. So habe ich in Anlehnung an diese drei Wörter in letzter Zeit immer wieder einen zunächst positiven Trend erkannt: Einige Beobachter bemerkten, dass es in einer Gesellschaft auch Tendenzen zum Selbsthass geben kann. Es wurde eine Kultur von Burnout beschrieben, eine Kultur der Selbstausbeutung. Es wurden Problematiken wie Selbstverletzung, Selbstverstümmelung und Essstörungen thematisiert. Verhalten die dem eigenen Körper Schlechtes zufügen. Es wurden Trends dagegengesetzt, die betonten, dass wir uns auch selbst Liebe schuldig sind. Es sind gute Ziele, wenn wir uns von solchen selbstzerstörerischen Tendenzen abgrenzen wollen, die uns unserer selbst berauben, uns selbst hassen lassen wollen oder uns dazu bringen, uns selbst ausbeuten.
Steigerung zur Selbstverliebtheit?
Leider ist es für uns Menschen dabei typisch, dass wir häufig wir über unser Ziel hinausschießen. So habe ich neben einem positiven Trend zur Selbstliebe auch eine Steigerung zu Selbstverliebtheit entdeckt. Ich habe häufig mitbekommen, wie es bei meinungsprägenden Personen z.B. im Internet zu weit ging. Es kam zu Aussagen wie: Ich höre nur noch auf mich, andere können mich nicht korrigieren. Nicht nur: Ich nehme mich selbst an, wie ich bin. Sondern Aussagen wie: Ich nehme mich ganz an, weil ich perfekt bin und keine Verbesserung brauche! Alles an mir ist schön und großartig! Nicht also: Ich nehme auch meine Fehler an und arbeite an diesen, sondern sogar: Es gibt an mir keine Fehler, ich bin schon perfekt.
Wir merken, wie schnell wir uns von einer sinnvollen Selbstliebe entfernen können. Wenn wir von einem Tripelgebot der Liebe sprechen wollen, also das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, ergänzt durch eine heilige und demütige Selbstliebe, dann darf es dabei nie so weit gehen, dass die Selbstliebe zur Selbstverliebtheit wird. Jesus Christus hilft uns dabei und weist uns darauf hin, dass wir aus unserem Evangelium eine Hierarchie dieser Liebe heraushören können. Er fängt nämlich nicht an mit der Selbstliebe, kommt so zum Nächsten und endet bei Gott. Es ist eindeutig, dass er die Gottesliebe als einzig sinnvollen Anfang zuerst nennt.
Schma Jisrael
Zuerst nennt er das Schma Jisrael: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben. Die Hierarchie kann so also nur wie folgt bestehen: Zuerst erkennen wir die Gottesliebe, daraus erkennen wir die Nächstenliebe, aus denen die Selbstliebe logisch folgt. Denn ein liebender Mensch erkennt, wenn er wegen der Gottesliebe die Nächstenliebe lebt, dass er ja durch sich selbst lieben muss. Wir sind schließlich das einzige Instrument unserer Liebe! Ich kann nicht lieben ohne mich selbst, es ist ja genau mein Selbst, das ich in Liebe hingebe. Das Selbst ist so die Brücke zwischen der Gottes- und Nächstenliebe. Wenn die Brücke einstürzt, weil sie entweder zu einem Selbsthass oder einer Selbstverliebtheit ausartet, dann zerstört dies nicht nur meine Kapazität, Gott ganz zu lieben, sondern auch den Nächsten so zu lieben. So müssen wir darauf achten, dass Selbstliebe niemals heißen kann, dass wir uns selbstzerstörerisch lieben, oder dies gar nicht tun.
Wenn wir also das nächste Mal darüber nachdenken, wie wir einem Menschen bei einer kurzen Begegnung die Essenz unseres Glaubens zusammenfassen wollen, dann erinnern wir uns doch an das Doppelgebot der Liebe. Liebe Gott mit ganzem Herzen, und den Nächsten wie dich selbst. Und wenn Sie selbst an der Umsetzung des Doppel-(/Tripel-)gebotes der Liebe in Ihrem Leben arbeiten wollen, dann vergessen Sie dabei das Selbst nicht.
(radio vatikan – redaktion claudia kaminski)
Im Oktober begleitet uns bei Unser Sonntag Leonard Skorczyk. Der 25-jährige stammt aus der Pfarrei Heilige Dreifalitgikeit in Amberg und studierte Theologie in Heiligenkreuz, den Vereinigten Staaten und in Regensburg. Am 26.Juni 2021 wurde er in Regensburg von Bischoff Rudolf Vorderholzer zum Priester geweiht.
Derzeit ist er in der Domstadt Kaplan in der Pfarrei Herz Marien.
Durch eine frühe Begeisterung für Evangelisierung und Mission begann er sofort nach dem Abitur mit dem Studium der Philosophie, Theologie und Psychologie und trat mit 18 Jahren ins Priesterseminar ein. Schon während des Studiums wirkte er bei Medienprojekten mit.
Seine Abschlussarbeit schrieb er im Bereich der perimortalen Wissenschaften, über die Verbindung von Seelsorge und Trauerarbeit